„Jede Stadt, in die wir kommen, wo auch immer sie sei,“ erzählte er seiner Mutter, „scheint voll von Pfadfindern und Pfadfinderführern zu sein, und sie wiederum sehen ich als ihren Führer an.“

vgl. Jeal 2007, S. 570

Walter Hansen beschreibt einen absoluten Selbstläufer, was die Verbreitung der Pfadfinderei in der gesamten Welt angeht. Chilenische Pfadfinder, die im bei seiner Ankunft in Südamerika begrüßten oder auch bereits 1909 Mädchen beim Pfadfindertreffen mit 11.000 Teilnehmenden im Crystal Palace in London, die ihm erklärten, dass sie „Girl Scouts“ seien – Pfadfinderinnen.1vgl. Hansen 2018, S. 192 f. Während es bei Hansen nur diese eine Info über die Existenz der Girl Guides gibt, widmet sich Tim Jeal der Entwicklung ein eigenes Kapitel. Eine Zusammenfassung findet ihr hier.

Wie lief das denn nun wirklich ab? Sicherlich hatte die Verbreitung seines Buches einen Beitrag, ebenso wie die Tatsache, dass es sich immer noch um das britische Empire handelte, wo die Ideen zwischen den verschiedenen Kolonien hin und her flossen. Zwischen 1908 und 1914 gab es Pfadfinder*innen im gesamten Empire und darüber hinaus auch in vielen europäischen Ländern, auf dem Balkan und in Japan.2vgl. Jeal 2007, S. 569


BiPi und die Boy Scouts of America (1910 – 1931)

Was die Entwicklung in Amerika angeht, hatte Baden-Powell tatsächlich wenig beizutragen. Dennoch gab es hier 1918 bereits 300.000 Pfadfinder*innen, zehn Jahre später bereits eine Millionen.3vgl. Jeal 2007, S. 569 Wie das zustande kam?

Bevor die Boy Scouts of America offiziell gegründet wurden, gab es bereits überall in den USA (wie überall auf der Welt) spontane Gründungen von Pfadfindergruppen, die oftmals bei der Y.M.C.A. (Young Men’s Christian Association) eingegliedert wurden.mfn]vgl. Jeal 2007, S. 569[/mfn] Die B.S.A. wurden 1910 von William D. Boyce gegründet nach einer Geschichte, bei der ihm in London ein Boy Scout geholfen hatte und anschließend jegliches Trinkgeld verweigert hatte.

BiPi war am 23.09.1910 bei einem Galadinner in New York eingeladen, ausgerichtet von einigen Funktionären der YMCA. Eingeladen hatte Edgar M. Robinson, der höchst aktiv bei der YMCA war und dem daran lag, die Pfadfinderei in eine eigenständige Organisation zu gliedern. Er überredete William D. Boyce, ihn als Managing Director der B.S.A. einzusetzen, sodass er ein Managing Board aufsetzen könnte. 4vgl. Jeal 2007, S. 569 Ziel des Dinners war die Werbung der Pfadfinder in Amerika. Vorsitzender des Dinners war Ernest Thompson Seton, den wir bereits aus dem Kapitel 1900 – 1907: Erste Ideen kennen. Es handelt sich um denselben Seton, der BiPi beschuldigte, einen Teil seiner „Woodcraft“-Ideen geklaut zu haben. Vermutlich aufgrund des vorherigen Streits rund im die Ideen der Pfadfinderei und weil Seton beim Empfang überaus schmeichelhaft über BiPi sprach, überließ Baden-Powell am nächsten Tag der B.S.A. einen großen Teil seines Buches Scouting for Boys, damit dieses in das Handbook of the Boys Scouts of America aufgenommen werden konnte – ohne finanzielle Entschädigung. Baden-Powell verzichtete damit nicht nur auf die Rechte an dem Titel „Boy Scouts“ in Amerika, er opferte auch hunderttausende Dollar durch die Abgabe des Rechts sein Buch ohne Honorar vervielfältigen zu können, ebenso wie die Nutzung der Uniform und der Abzeichen.5vgl. Jeal 2007, S. 445

Der neue Vorstand der B.S.A., James E. West, lenkte die Pfadfinder in America in eine Richtung, die BiPi nicht gefiel. Die Organisation wurde übermäßig bürokratisch, gab eine Vielzahl von Vorschriften vor und reglementierte dadurch Treffen und Lager und im erweiterten Sinne auch den Abenteuergeist der Bewegung. Zusätzlich kam dazu, dass Funktionäre bezahlt wurden, also der altruistische Gedanke der Pfadfinder, in der man durchaus Freizeit „opfert“ völlig an der Idee BiPis vorbei zielte.6vgl. Jeal 2007, S. 570

Baden-Powell sah die Entwicklung der Pfadfinder in den USA also kritisch, ebenso wie die grundsätzlichen gesellschaftlichen Entwicklungen rund um Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Man bekommt den Eindruck, dass hier ein Mann mit den Entwicklungen der Zeit nicht mehr mitkommt, da so simple Dinge wie Cocktails, Jazz und Nagellack verabscheute. Der Kommerz scheint das einfache Leben, von dem er immer träumt und das er weitergeben möchte, auszubrennen.7vgl. Jeal 2007, S. 571 f.

In den Südstaaten der USA wurden Schwarze Pfadfindergruppen übrigens von Weißen Südstaatlern boykottiert, da sie beim Vorstand Einspruch gegen diese Gruppen erheben konnten. Grundsätzlich waren getrennte Gruppen die Norm, ab den 1930ern erst gab es einige gemischte Gruppen.8vgl. Jeal 2007, S. 577 f.


Uns ist besonders wichtig noch einmal hervorzuheben, dass die B.S.A. seit jeher eine eigenständige Organisation sind (BiPi hatte ja auch noch alle Rechte verschenkt), die zwar der World Organization of the Scout Movemet (W.O.S.M.) angehört, aber eigenständig handelt. Vor allem im Hinblick auf den Missbrauchsskandal bei der B.S.A. und der anschließenden Insolvenz des Unternehmens, ist dies wichtig zu verstehen. Die B.S.A. lassen sich in ihrer gesamten Organisation nicht mit Pfadfinder*innengruppierungen aus anderen Ländern vergleichen.
Grundsätzlich möchten wir euch gerne die Dokumentation „Pfadfinderehre: Die Geheimakten der Boy Scouts of America“ auf Netflix empfehlen, die sich mit dem Missbrauchsskandal beschäftigt.


Die Pfadfinder im restlichen Empire (1912 – 1936)

In der Rolle eines Beraters wollte BiPi im Ausland auftreten. Dies zeigte auch insbesondere die Gründung des „Boy Scout International Bureau“ 1920, welches unter britischem Vorsitz agierte9vgl. Jeal 2007, S. 572 (quasi der Vorläufer der WOSM – World Organization of the Scout Movement). Pro Land wurde maximal eine Institution offiziell akzeptiert, erwartet wurde die Anmeldung aller Pfadfinder-Organisationen. Danach agierte das Bureau eigenständig.10vgl. Jeal 2007, S. 572

Baden-Powell wollte innerhalb des Empires allerdings stets die Zügel über seine Bewegung in der Hand behalten. 1918 wurden für die Büros der Pfadfinderorganisation im Empire der Name „Imperial Headquarters“ ausgesucht. Die Staaten und Kolonien unter britischer Herrschaft sollten zwar ihre eigenen Organisationen leiten, solange dies nicht auf Kosten der „richtigen Prinzipien“ geschah. Die Chief Commissioners (also die Verantwortlichen für die Organisation in den verschiedenen Ländern) wurden von Baden-Powell selbst ernannt und waren den Imperial Headquarters gegenüber verantwortlich.11vgl. Jeal 2007, S. 573

Südafrika

BiPi wurde im Empire durch die kolonialen Bedingungen vor Herausforderungen gestellt. In den Kolonien mit Schwarzer Bevölkerung war seine Autorität nicht so gefestigt. Hier entschieden Beispielsweise 1912 weiße Commissioner in Barbados und Demarara eigenständig, dass Schwarze der Bewegung nicht beitreten dürften. in Trinidad gab es nach Hautfarben getrennte Gruppen, in Südafrika gab es auch ausschließlich weiße Pfadfindergruppen. Die Anträge von nicht-Weißen wurden durchgängig abgelehnt. In den Jahren nach 1926 gab es in Südafrika unterschiedliche Vorgehensweisen in den verschiedenen Provinzen, doch selbst ein persönlicher Besuch von Baden-Powell 1926 – 1927 konnte an dem Problem der Trennung nach Hautfarben nichts ändern. Es gab plötzlich parallele Organisationen für Schwarze, Inder oder auch für die Nachkommen niederländischer Siedler (die sich bildeten, als Inder in den Weißen Gruppen zugelassen wurden). BiPi selbst traf vor allem die Anführer, um den Konflikt zu lösen, eher selten mit den Betroffenen. Als er es doch einmal tat, ließ er sich zur Zusicherung seiner Unterstützung hinreißen:

Diese Männer fragten ihn, warum es keine afrikanischen Pfadfinder in Südafrika geben dürfe, schließlich gebe es Schwarze Pfadfinder in Uganda und indische Pfadfinder in Indien. „Sie drückten sich bemerkenswert gut aus, und man konnte nicht anders als mit ihnen zu fühlen“, merkte Baden-Powell an. […] Erschüttert von dieser Begegnung versicherte er ihnen ohne weiter nachzudenken, sie könnten „damit rechnen, dass ihr Antrag meine volle Unterstützug findet.“

Jeal 2007, S. 575

Vom Commissioner von Salisbuyr/Südrhodesien wird BiPi gewarnt sich nicht für politische Zwecke von den Schwarzen ausnutzen oder sich von ihnen hinters Licht führen zu lassen. Als er Südafrika verlässt, schreibt er: „Das Problem liegt bei den Politikern, wie schon vor 20 Jahren. Sie sehen nicht, was en Eingeborenen zusteht.“

1936 kehrte er nach Südafrika zurück, inzwischen 79 Jahre alt und bei schlechter Gesundheit. Er bemühte sich dennoch weiterhin um einen Kompromiss zwischen Weißen und Schwarzen Pfadfindern. Die einzige Lösung, auf die sich die Weißen Pfadfinder einließen, war die Einrichtung eines Pfadfinderrates, der bestehend aus zwei Räten (einem für die Weißen und einem für die Schwarzen) bestehen sollte und im Falle eines Konfliktes zusammenkommen würden. Die Weißen hatten selbstverständlich eine kleine Mehrheit in diesem Rat.
Lediglich in Bezug auf Uniform und Abzeichen gab es eine Gleichstellung. Die Uniform war überall identisch, bis auf das Hutband, das je nach Abteilung unterschiedlich war. Und alle sollten gemeinsam den Namen „Boy Scouts“ tragen.12vgl. Jeal 2007, S. 576 f.

Indien

Bereits 1916 sprach sich BiPi für den Zutritt von Indern bei den Pfadfindern aus, was jedoch von Vizekönig Lord Chelmsford per Veto abgelehnt wurde.
Jedoch gab es in Inddien eine Prominente, die sich sehr stark für die Pfadfinder in Indien einsetzte und bereits 1916 mehrere Pfadfindergruppen gründete. Annie Besant war der britischen Politik in Dorn im Auge und wurde sogar als „politische Agitatorin“ verhaftet. Da nun mehrere Pfadfinderbewegungen in Indien existierten, u.a. auch von der Y.M.C.A. gegründete Gruppen, war Baden-Powell direkt gezwungen sich für eine Einigung der Gruppierungen einzusetzen. 1921 reiste BiPi nach Indien und nahm Annie Besat bei einer großen Pfadfinder-Rallye das Versprechen ab.13vgl. Jeal 2007, S. 578


Weitere Reisen

In den 1920ern und 1930er besuche Baden-Powell mehrmals Kanada und Neuseeland (erinnert euch, BiPi war 1936 bereits 79 Jahre alt!). Auch in Europa waren er und Olave viel unterwegs und unterzogen sich höchst pflichtbewusst vielerlei Ehrungen und Feierlichkeiten, nahmen an Rallyes und verschiedensten Feierlichkeiten teil. Für seine Tätigkeiten als World Chief Scout erhielt BiPi, abgesehen von seinen Spesen, keine Bezahlung.14vgl. Jeal 2007, S. 579


Zu der Entwicklung der Pfadfinderei in Ländern außerhalb des britischen Empires gibt es seitens Tim Jeal wenig bis keine Beschreibungen. Dies führen wir darauf zurück, dass Tim Jeal v.a. zeitgenössische Quellen und persönliche Dokumente von BiPi sowie Dokumente von nahestehenden Personen und dem World Bureau verwendet. Dies führt einerseits dazu, dass wir sehr konkrete Anhaltspunkte darüber haben, was während der Gründung passiert ist und wie schwierig auch die Arbeit mit den verschiedenen Persönlichkeiten in den Kommitees war. Andererseits ist dadurch der Fokus auf dem britischen Empire, was in unserer Wahrnehmung auch dem Fokus von Baden-Powell entsprach.

Falls sich hier jemand findet, der weiteres zur Pfadfinder*innengeschichte in den verschiedenen Ländern beitragen kann und will, melde dich gerne bei uns!


Fußnoten

  • 1
    vgl. Hansen 2018, S. 192 f.
  • 2
    vgl. Jeal 2007, S. 569
  • 3
    vgl. Jeal 2007, S. 569
  • 4
    vgl. Jeal 2007, S. 569
  • 5
    vgl. Jeal 2007, S. 445
  • 6
    vgl. Jeal 2007, S. 570
  • 7
    vgl. Jeal 2007, S. 571 f.
  • 8
    vgl. Jeal 2007, S. 577 f.
  • 9
    vgl. Jeal 2007, S. 572
  • 10
    vgl. Jeal 2007, S. 572
  • 11
    vgl. Jeal 2007, S. 573
  • 12
    vgl. Jeal 2007, S. 576 f.
  • 13
    vgl. Jeal 2007, S. 578
  • 14
    vgl. Jeal 2007, S. 579
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Von lena

Ein Gedanke zu „Ab 1910: Die Bewegung wächst“

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