Märchenland, Wunderwelt und Maskenball

Zehn oder vier Jahre nachdem der „kleine“ Ste mit seinen Brüdern den großen Hike die Themse entlang gemacht hatte, war er nun auf dem Weg nach Indien. Am 6. Dezember 1876 war gegen Mittag der Hafen von Mumbai (welches bei Hansen noch den kolonialen Namen Bombay trägt) in Sicht.

Nach einer (eindeutig eurozentrisch geprägten) Beschreibung der Ankunft und der Menschen am Hafen, begleiten wir Baden-Powell bei Hansen im Zug nach Lucknow. Dort angekommen begann für BiPi der achtmonatige Offizierslehrgang. Auf dem Stundenplan standen die Fächer: Exerzieren, Taktik, Ballistik und Kundschafterwesen, das letzte Fach war natürlich BiPis liebstes.1Hansen 2018, S. 59


1876 bis 1879 – Baden-Powells erste Jahre in Indien

Während in „Der Wolf, der nie schläft“ die erste Zeit Baden-Powells in Indien als aufregendes Abenteuer beschrieben wird, in der BiPi die exotische neue Welt und die Bewohner*innen des indischen Subkontinents kennenlernt und Erfolge als Kundschafter und Schauspieler feiert, zeichnet Tim Jeal ein ganz anderes Bild.
Schon auf der Überfahrt sah sich der junge BiPi mit Hitze, Krankheiten und Tod konfrontiert.2vgl. Jeal 2007, S. 73 Auf der Zugreise zur Garnison legten die jungen Offiziere ihre Waffen nicht aus der Hand, da sie bisher nur die Geschichten der Gewalt von vor zwanzig Jahren kannten. Ein paar Tage später übernahmen sie dann, laut Jeal, aber bald die überhebliche Haltung der meisten Briten den Einheimischen gegenüber.3Jeal 2007, S. 74


Der junge Kundschafter

In dieser Zeit soll auch „Die Story vom jungen Kundschafter“4Hansen 2018, S. 60ff geschehen sein, die BiPi von einem Nachrichtenoffizier erzählt wurde und die er – und andere Autoren – später in verschiedenen Varianten niederschrieben.

In der Geschichte hilft ein junger Inder den britischen Soldaten einen Vermissten zu finden, indem er Spuren liest. Auf die Nachfrage, wie die Verständigung denn funktioniert habe, wo doch kaum eine Brite Hindustan spricht, wurde BiPi aufgeklärt, dass der Junge hervorragendes Englisch sprach. Baden-Powell zog daraus den Schluss, dass es für ein friedliches Miteinander wichtig sei, die Sprache des anderen zu sprechen.5Hansen 2018, S. 63
BiPi lernte also Hindustani und tauchte in die Viertel der indischen Bevölkerung ein. Zumindest laut Hansen.6Hansen 2018, S. 63ff Jeal berichtet, dass es ihm nicht gelang diese Sprache zu erlernen.7Jeal 2007, S. 83


Theater, Polo und Wildschweinjagden

Um die Zeit der Soldaten etwas angenehmer zu gestalten, wurden Theater und Sport in der Garnison groß geschrieben. BiPi konnte sein Schauspieltalent auch hier zeigen.8Jeal 2007, S. 81

Neben dem Theater begeisterte sich Baden-Powell in dieser Zeit für zwei Sportarten: Polo und die Wildschweinjagd.9über dieses Hobby schrieb er später dann auch ein Buch
Das Geld für diese kostspieligen Hobbys – sein Sold als Soldat reichte kaum aus um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten – verdiente sich BiPi in dieser Zeit mit dem Bleistift. Für die Zeitschrift „Graphic“ fertigte er Berichte und Zeichnungen über die Wildnis und die Tierwelt des Subkontinents an.

Nachdem BiPi seinen Lehrgang beendete hatte und zum Leutnant befördert worden war, machte er sich daran das Freizeitangebot in Luckdown zu erweitern. Viele der Soldaten hatten ihre freien Abende bis dahin mit Glücksspiel und Alkohol verbracht. Leutnant Baden-Powell wollte das ändern und gründetet einen Chor und eine Schauspielgruppe.


Das System der kleinen Gruppe

Mit seinem neuen Rang war auch eine neue Aufgabe verbunden. BiPi musste sich um die Ausbildung der Rekruten kümmern.
Um aus einer müden Gruppe von 40 Soldaten, die „perfekt, teilnahmslos, ohne mitzudenken“10Hansen 2018, S. 69 Befehle entgegen nahmen, Männer zu machen, die Initiative ergreifen, führte er ein neues System ein.
Er teilte die Kompanie in mehrere „Patrouillen“ ein, die jeweils einen Leiter hatten. Diese bekamen dann nicht mehr kleinteilige Aufgaben, die sie blind Schritt für Schritt zu befolgen hatten, sondern nur noch das Ziel vorgegeben. Wie sie es erreichten, wurde der Gruppe dann selbst überlassen.
Lesen wir das Gespräch, das Hansen Baden-Powell und seinen vorgesetzten Offizier führen lässt , dann erkennen wir hier schon die Grundzüge eines Teils der pfadfinderischen Methode.11Hansen 2018, S. 69ff

Der Hauptzweck des Kleingruppensystems ist es, möglichst vielen Soldaten möglichst viel Verantwortung zu übertragen. Jeder einzelne ist verantwortlich, dass seine Patrouille eine gute Patrouille ist. […] Das Kleingruppensystem entwickelt bei jedem Mitglied die Fähigkeit selbstständig zu denken und Initiative zu ergreifen. […]
Alle ziehen mit. Eben deshalb, weil in der kleinen Gruppe jeder die Verantwortung dafür trägt, dass die Gruppe gut ist. Drückeberger sind eher zu befürchten in anonymen Haufen von 40 Mann, die ohne mitzudenken, ohne Verantwortung mitzutragen, dem Befehl eines einzigen, unpersönlich an der Spitze stehenden Kompaniechefs gehorchen.

Hansen 2018, S. 71ff

Wie sooft gehen die Erzählungen hier auseinander…

Wie wir oben schon gelesen haben, unterscheiden sich die Erzählungen bei Walter Hansen und Tim Jeal. Bei ersterem war Baden-Powell erste Zeit in Indien ein einziges Abenteuer, beim zweiten liest es sich komplett anders.

Laut Jeal scheint die erste Zeit in Indien für Baden-Powell äußerst unangenehm gewesen zu sein. Auf der einen Seite gab es den Drill der Ausbildung, auf der anderen Seite wohl jede Menge Langeweile. Die Hitze und die Krankheiten („Todesfälle durch Hitzeschock und Cholera [waren in Lucknow] an der Tagesordnung“12Jeal 2007, S. 83) taten ihr übriges.

Tim Jeal fasst BiPis Verfassung wie folgt zusammen:

Er hatte Schmerzen an der Leber, wurde geplagt von Furunkeln, Kopfschmerzen Schwindelanfällen und hatte weiche Knie“ Seiner Mutter schrieb er im November 1878 „beide Ärzte sagen, dass ich jemand bin, der sich nicht leicht akklimatisiert… Ich sehne mich nach einem Brief von Dir in dem Du mich bittest, nach Hause zu kommen – es ist mir egal, wo ich hinkomme, wenn es nur nicht Indien ist!

Jeal 2007, S. 83

1879 bis 80 Heimaturlaub

Am 28. November 1879 kam dann die befreiende Nachricht. Die Ärzte schickten BiPi nach zwei Jahren zurück nach England. Dort kaufte er sich ein Fahrrad – die kamen in England zu dieser Zeit gerade in Mode13vgl. Hansen 2018, S. 74f.

Tim Jeal gibt uns auf insgesamt sieben Seiten Einblick in die Zeit des Heimaturlaubs Baden-Powells. Neben diversen militärischen Verpflichtungen, organisierte er einige Theaterstücke, bei denen er auch selbst auf der Bühne stand. Und natürlich versuchten er und seine Brüder, angetrieben durch ihre Mutter durch Dinnerpartys und andere gesellschaftliche Zusammenkünfte, Kontakte zuknüpfen, die ihren Karrieren dienlich waren.14Jeal 2007, S.8ff


Zurück nach Indien und weiter nach Afghanistan

Baden-Powell erreichte Indien am 5. Oktober 1880 wieder. Angekommen in Lucknow musste er feststellen, dass seine Kameraden alle schon nach Afghanistan verlegt worden waren. BiPi hatte das Telegramm, dass ihn dorthin beorderte, verpasst, so dass er sich nun alleine auf den „Einsamen Ritt“ begeben musste.

Der Ritt dauerte mehrere Wochen, aber Mitte Dezember kam er in Kokoran (sieben Meilen außerhalb von Kandahar) an „abgemagert, verstaubt, erschöpft – und glücklich, dass er Menschen sah“15Hansen 2018, S. 79.

Ort des Schlachtfeldes von Maiwand © OpenStreetMap-Autoren

BiPis Auftrag war es, dass Schlachtfeld von Maiwand zu kartographieren, um daraus Schlüsse ziehen zu können, wie es zur Niederlage der Briten kommen konnte. Auch wenn es nicht so recht zum Bild des jungen Stephe passt, dass Baden-Powell später vermittelte: ab diesem Zeitpunkt stellte sich eine Faszination für Schlachtfelder bei ihm ein, so dass er später sogar Reisen unternahm um welche zu besuchen.16vgl. Jeal 2007, S. 93.

Während dieser Zeit lernte Baden-Powell McLaren kennen, über den wir an anderer Stelle noch mehr lesen werden.


BiPi wird angeschossen

An dieser Stelle ein kleiner Exkurs, um euch zu verdeutlichen, warum die Arbeit an diesem Projekt uns manchmal zur Verzweiflung treibt…

Bei Walter Hansen gibt es ein fünfseitiges Kapitel über „Die Flucht im Kugelhagel“ während der unser Held Robert Stephenson Smyth Baden-Powell angeschossen wird. Bei Tim Jeal kommt das nicht vor, dort wird auf Seite 94 von einem Unfall berichtet, bei dem sich BiPi, beim Versuch einen Pferdedieb zu stellen, selbst durch die Wade in die Ferse schießt. Ob das jetzt zwei Versionen des gleichen Vorfalls sein sollen, haben wir bisher noch nicht herausbekommen.17Hansen 2018, S. 84ff + Jeal 2007, S. 94


Adjutant von Oberst Baker Creed Russel

Im März 1982 wird Baden-Powell der Adjutant von Baker Creed Russel, der ihm unter anderem die Aufgabe übertrug ausgewählte Soldaten zu Kundschaftern auszubilden. Die Broschüre „Nachrichtendienst und Kundschafter“, welche 1884 unter dem Titel „Reconnaissance and Scouting“ erschien und eine Zusammenfassung der Vorträge enthält, die BiPi seinen Männern hielt, könnt ihr hier im Volltext lesen.
Im Buch beginnt BiPi etwas, dass sich durch sein späteres Werk ziehen soll: er erzählt pseudobiographisch und übertreibt. Oder um es mit Tim Jeal zu sagen „Dass die meisten seiner Gänge als Kundschafter ihn kaum jemals in Gefahr brachten, hielten ihn nicht davon [a]b, so über sie zu schreiben, als hätten sie es getan.“18Jeal 2007, S. 102
(Um das Buch zu pushen, bestellte Henrietta Grace 10.000 Handzettel und bat den Verlag diese an alle Offiziere der Armee zu schicken, die sie in ihrer Kundendatei hatten19vgl. Jeal 2007 S. 149.)


Auf nach Südafrika

Eigentlich war der Plan für Baden-Powells Regiment, dass es nach England zurück kehren sollte. Doch am 13. November 1884 kam plötzlich der Befehl, nach Südafrika aufzubrechen.

„Aus unserer Heimreise wird nichts. Das 13. Husarenregiment hat telegraphisch Befehl aus London bekommen […] sich unverzüglich nach Port Natal (heute Durban) in Südafrika zu begeben, zur Unterstützung der dort stationierten britischen Truppen. Der Boden in Südafrika – meine Herren – ist augenblicklich heißer als je zuvor“

Hansen 2018, S. 100

Klicktipps:

  • Wenn du Lust hast dir die „Indian Memories“ von Baden-Powell mal anzuschauen, oder sogar die 400 Seite selbst zu lesen, findest du hier ein PDF mit einem komplett Scan auf archive.org.
  • Den Volltext von Reconnaissance and Scouting findet ihr hier.
  • Eine Übersicht über BiPis Laufbahn beim Militär findest du hier. Mehr Informationen zu seiner nächsten Station in Südafrika hier.

Fußnoten

  • 1
    Hansen 2018, S. 59
  • 2
    vgl. Jeal 2007, S. 73
  • 3
    Jeal 2007, S. 74
  • 4
    Hansen 2018, S. 60ff
  • 5
    Hansen 2018, S. 63
  • 6
    Hansen 2018, S. 63ff
  • 7
    Jeal 2007, S. 83
  • 8
    Jeal 2007, S. 81
  • 9
    über dieses Hobby schrieb er später dann auch ein Buch
  • 10
    Hansen 2018, S. 69
  • 11
    Hansen 2018, S. 69ff
  • 12
    Jeal 2007, S. 83
  • 13
    vgl. Hansen 2018, S. 74f
  • 14
    Jeal 2007, S.8ff
  • 15
    Hansen 2018, S. 79
  • 16
    vgl. Jeal 2007, S. 93
  • 17
    Hansen 2018, S. 84ff + Jeal 2007, S. 94
  • 18
    Jeal 2007, S. 102
  • 19
    vgl. Jeal 2007 S. 149
Avatar-Foto

Von metz

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert